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Einleitung: Corona als individueller psychologischer Stresstest

Das Coro­na­vi­rus und die damit ver­bun­de­nen Fol­gen wer­den mul­ti­ple und zumeist nega­ti­ve Fol­gen für die mensch­li­che Psy­che haben. In die­sem Arti­kel geht es dar­um, die­se her­aus­zu­ar­bei­ten, zu ana­ly­sie­ren und final Hand­lungs­emp­feh­lun­gen abzu­lei­ten. Denn so, wie die­ses Virus ein kol­lek­ti­ver Stress­test für die Gesell­schaft ist, so ist es dies auch für die Psy­che jeder und jedes Ein­zel­nen. Zusam­men­fas­send lässt sich schon ein­mal fest­hal­ten, dass Coro­na simul­tan die Gebur­ten­ra­te als auch die Schei­dungs­ra­te, psy­chi­sche Erkran­kun­gen und lei­der wohl auch die Zahl der Sui­zi­de stei­gern wird, und dem­ge­gen­über ledig­lich Selbst­be­stim­mung und Selbst­re­fle­xi­on bei einem Teil der Men­schen ste­hen wird. Die Affekt­bi­lanz (vgl. Selig­man, Heu­ser, 2008), das heißt die Dif­fe­renz posi­ti­ver und nega­ti­ver Gefüh­le durch Coro­na, wird nega­tiv sein.

Corona und Partnerschaften

Obwohl jede Part­ner­schaft ein­zig­ar­tig ist, gibt es doch bestimm­te Grund­prin­zi­pi­en und Para­me­ter, wel­che alle Part­ner­schaf­ten beschrei­ben. Durch Coro­na wer­den sich vie­le Para­me­ter ändern, was in der Kon­se­quenz dann eben auch vie­le Part­ner­schaf­ten ver­än­dern und eine signi­fi­kan­te Anzahl auf­lö­sen wird.

Part­ner­schaf­ten wer­den ganz wesent­lich dadurch bestimmt, dass sie Nähe und Distanz sowie Neu­es und Ver­trau­tes für sich in die rich­ti­ge Balan­ce brin­gen soll­ten, damit alle Betei­lig­ten die Part­ner­schaft als erfül­lend erle­ben. Dar­aus ergibt sich dann ein ent­spre­chen­der affek­ti­ver Aus­tausch, der ent­schei­dend ist für die erleb­te Bezie­hungs­qua­li­tät (Debrot et. al., 2018). Dies ist schon im Aus­gangs­zu­stand nicht immer leicht, da Men­schen hier sehr unter­schied­li­che Prä­fe­ren­zen haben (Ney­er & Asen­dorpf, 2018; Ame­lang & Bar­tus­sek, 2001), die nicht immer leicht in Ein­klang zu brin­gen sind. Jetzt aber wird, wenn es deut­lich mehr Home-Office, ggf. Werks­schlie­ßun­gen, Kurz­ar­beit, Ent­las­sun­gen etc. gibt, deut­lich mehr Nähe und deut­lich mehr Gewohn­heit geben. Das aber bedeu­tet, dass die bis­her gefun­de­ne Balan­ce von Paa­ren aus dem Gleich­ge­wicht gerät. Und mög­li­cher­wei­se haben Paa­re z.B. auch nur in einem bestimm­ten Ver­hält­nis von Nähe und Distanz funk­tio­niert. Die­ser Effekt ließ sich schon vor der Coro­na-Kri­se ein­drucks­voll dar­an able­sen, dass nach Urlau­ben die Schei­dungs­ra­ten erhöht waren. Es ist also zu erwar­ten, dass mehr Paa­re aus dem Gleich­ge­wicht kom­men, und es daher ver­mehrt zu Tren­nun­gen kommt. Chi­na weist bereits ers­te Empi­rie in die­se Rich­tung auf.

Auf der ande­ren Sei­te ergibt die Kri­se natür­lich auch die Mög­lich­keit, den Part­ner bzw. die Part­ne­rin anders und inten­si­ver ken­nen­zu­ler­nen. Es ist ein grund­le­gen­der psy­cho­lo­gi­scher Effekt, dass Her­aus­for­de­run­gen bzw. Gefah­ren von außen Paa­re zusam­men­schwei­ßen (Haidt, 2012). Das heißt, die Paa­re, die jetzt gemein­sam Coro­na über­ste­hen, wer­den auch künf­tig deut­lich resi­li­en­ter sein. Und dadurch, dass es mehr gemein­sa­me Zeit gibt, die Frei­zeit­mög­lich­kei­ten dras­tisch redu­ziert sind, wird natür­lich auch die Sexua­li­tät wie­der einen höhe­ren Stel­len­wert bekom­men, was unse­rer Gesell­schaft rund um Weih­nach­ten einen Baby­boom besche­ren wird. Zusam­men­fas­send sorgt Coro­na dafür, dass jetzt alle Paa­re die­ses „In guten wie in schlech­ten Zei­ten“ mit Leben zu fül­len haben wer­den. Vie­le wer­den dar­an wach­sen, auch quan­ti­ta­tiv, aber eini­ge eben auch schei­tern.

Was vie­len Men­schen auch künf­tig feh­len wird, sind tat­säch­li­che phy­si­sche Berüh­run­gen. Die Exis­tenz von Kuschel­par­ties zeigt, dass nicht weni­ge Men­schen schon in Nor­mal­zei­ten hier ein Defi­zit ver­spü­ren. Über Mona­te hin­weg jetzt nie­man­den zu berüh­ren, wird für das kör­per­li­che und psy­chi­sche Wohl­be­fin­den vie­ler Men­schen eben­falls eine star­ke Belas­tung.

Corona und die Einsamkeit

Ein­sam­keit ist ein The­ma unse­rer Gesell­schaft, wel­ches schon vor Coro­na zuneh­mend viru­len­ter wur­de. Durch die ins­ge­samt zuneh­men­de Zahl an Sin­gles, vie­le älte­re Men­schen, die als Wit­wen bzw. als Wit­wer ihre Lebens­part­ner­schaft ver­lo­ren haben, aber auch die ins­ge­samt immer stär­ke­re Indi­vi­dua­li­sie­rung der Gesell­schaft (Reck­witz: 2018; Rosa: 2005) haben eh schon gro­ße Ein­sam­keits­po­ten­zia­le geschaf­fen. Nicht umsonst gibt es im Ver­ei­nig­ten König­reich seit 2018 ein eige­nes Ein­sam­keits­mi­nis­te­ri­um unter der Lei­tung von Tracey Crouch.

Ein­sam­keit lässt sich nicht ein­fach an der Zahl der Sozi­al­kon­tak­te fest­ma­chen. Ein­sam­keit ist wesent­lich ein indi­vi­du­el­ler Soll-Ist-Ver­gleich zwi­schen der quan­ta­tiv und qua­li­ta­tiv erwünsch­ten Anzahl von Sozi­al­kon­tak­ten und den tat­säch­lich bestehen­den Sozi­al­kon­tak­ten. Hin­zu kommt, dass Men­schen mit Ein­sam­keit je nach Per­sön­lich­keits­struk­tur sehr unter­schied­lich umge­hen kön­nen (Bue­cker et. al., 2020). Gera­de ängst­li­che Men­schen füh­len sich oft ein­sa­mer, weil sie oft unter Ver­lust­ängs­ten lei­den, wel­che jetzt natür­lich beson­ders aktua­li­siert wer­den. Aber auch für extra­ver­tier­te Men­schen, die gemäß der Theo­rie des opti­ma­len zere­b­ra­len Erre­gungs­ni­veaus (also wie stark soll mein Gehirn sti­mu­liert sein; Asen­dorpf 2015, S. 30), ist die jet­zi­ge Zeit sehr hart, da ihre wesent­li­che Freu­den­quel­le und Moti­va­ti­on, näm­lich Gesel­lig­keit, struk­tu­rell bedingt auf län­ge­re Zeit unmög­lich sein wird. Dem­ge­gen­über wer­den intro­ver­tier­te Men­schen das „soci­al distan­cing“ viel bes­ser bewäl­ti­gen kön­nen, da es viel näher an ihrer Eigent­lich­keit bzw. ihrem opti­ma­len cere­b­ra­len Erre­gungs­ni­veau liegt.

Coro­na wird jetzt dazu füh­ren, dass Men­schen, die in Qua­ran­tä­ne sind, oder Men­schen, die von Aus­gangs­sper­ren getrof­fen wer­den, deut­lich schlech­te­re Soll-Ist-Ver­glei­che haben wer­den. Gera­de Men­schen, die jetzt nicht inner­halb einer Fami­lie oder Part­ner­schaft sind und womög­lich über Wochen und Mona­te nur medi­al ver­mit­tel­te mensch­li­che Kon­tak­te haben wer­den, wer­den dar­un­ter extrem lei­den. Die Fol­gen von Ein­sam­keit sind eben­falls schon bekannt, näm­lich erhöh­te Erkran­kungs­ra­ten des Herz-Kreis­lauf-Sys­tems und ver­mehr­te psy­chi­sche Stö­run­gen, ins­be­son­de­re Depres­sio­nen (Bees­do & Witt­chen, 2006). Vor allem wird es lei­der deut­lich mehr Sui­zi­de geben.

Corona und Langeweile

Die Fol­gen des Coro­na­vi­rus wer­den den Grad an Lan­ge­wei­le in der Gesell­schaft deut­lich erhö­hen, aber sehr unter­schied­lich für ver­schie­de­ne Men­schen. Ins­be­son­de­re Men­schen, die ein hohes Leis­tungs­mo­tiv haben (also den Wunsch, bestän­dig etwas zu schaf­fen, vor­an­zu­kom­men und sich zu ver­bes­sern; vgl. Schult­heiss & Brun­stein, 2010; Heck­hau­sen & Heck­hau­sen, 2005), sowie extra­ver­tier­te Men­schen wer­den sehr schnell Lan­ge­wei­le erle­ben. Aller­dings wird es spä­tes­tens dann, wenn es zu Kurz­ar­beit oder Arbeits­lo­sig­keit kommt, sehr vie­le Men­schen tref­fen und ihnen lang­wei­lig wer­den. Denn neben Koope­ra­ti­on und Kon­takt, sozia­ler Aner­ken­nung und Iden­ti­täts­bil­dung sind eben auch Zeit­struk­tu­rie­rung und Akti­vi­tät sowie Kom­pe­tenz­er­le­ben wich­ti­ge psy­cho­so­zia­le Funk­tio­nen der Erwerbs­ar­beit (Sem­mer & Udris, 2007), und die­se ist nach wie vor die prä­gen­de Arbeits­form der Gesell­schaft (Hürt­gen & Vos­win­kel, 2016; von Rosen­stiel, 2013). Vie­le ehren­amt­li­che Tätig­kei­ten sind in nächs­ter Zeit bedingt durch die Coro­na­kri­se eben­falls nicht mög­lich, und fast jede Tätig­keit kennt einen Punkt der psy­chi­schen Sät­ti­gung. Auf den Punkt: Nach einer Woche ist auch Net­flix unspan­nend.

Was schon im nor­ma­len Berufs­le­ben gegen Lan­ge­wei­le (und mehr Arbeits­en­ga­ge­ment) emp­foh­len wird, ist mög­lichst viel job craf­ting, das heißt die mög­lichst eigen­stän­di­ge Gestal­tung des Arbei­tens und des Arbeits­plat­zes (Kooij et. al., 2016). Das Pro­blem ist jetzt jedoch, dass vie­le Men­schen genau das Gegen­teil erle­ben und sich sehr fremd­be­stimmt füh­len, ins­be­son­de­re auch bei unfrei­wil­li­ger Arbeits­lo­sig­keit.

Die­je­ni­gen, die sich jetzt auf­grund der geschlos­se­nen Schu­len und Kin­der­ta­ges­stät­ten um ihre Kin­der küm­mern müs­sen, wer­den kaum Lan­ge­wei­le erle­ben, eher das Gegen­teil. Men­schen jedoch, die den abso­lu­ten Fokus ihrer Zeit­struk­tur, ihres Selbst­wer­tes, ja auch ihrer per­sön­li­chen Iden­ti­tät in die Arbeit gesteckt haben (vgl. Kho­lin & Blick­le, 2015;Jaeggi & Küb­ler, 2014), wer­den jetzt eine star­ke per­sön­li­che Kri­se erle­ben, und das nicht nur auf­grund der Lan­ge­wei­le. Denn es wird nicht nur die Lan­ge­wei­le sein, die Men­schen zusetzt, son­dern auch das Feh­len von Leis­tungs­stolz, wenn sie nichts zu tun haben. Denn die­ser Wunsch, stolz auf das eige­ne Geschaff­te zu sein, ist eine wich­ti­ge Quel­le der Eigen­mo­ti­va­ti­on (Tul­li­us & Wolf, 2016), die jetzt in der Coro­na­kri­se für vie­le weg­fällt. Das wie­der­um wird den Selbst­wert vie­ler Men­schen stark und mit teils unab­seh­ba­ren Fol­gen redu­zie­ren.

Was in die­ser Coro­na­kri­se eine beson­de­re psy­cho­lo­gi­sche Res­sour­ce sein wird, ist moti­va­tio­na­le Kom­pe­tenz (Brun­stein, 2010: Rhein­berg, 2002), das bedeu­tet, dass das, was ich den­ke was mich moti­viert, auch tat­säch­lich das ist, was mich moti­viert. Denn wenn ich etwas tue, wozu ich intrinsisch moti­viert bin, dann resul­tiert dar­aus der sehr erstre­bens­wer­te Zustand des Flow-Erle­bens. Wer also jetzt die Zeit nutzt, um Din­ge zu tun, auf die er oder sie sich immer schon gefreut, hat, sie im All­tag aber nicht tun konn­te, und sie jetzt trotz Coro­na­kri­se tun kann (wie Lesen, Hand­wer­ken, bestimm­te Spie­le spie­len, Wei­ter­bil­dungs­an­ge­bo­te nut­zen), wird die Kri­se psy­chisch deut­lich bes­ser bewäl­ti­gen als Men­schen, die schon im Aus­gangs­zu­stand wenig mit sich anzu­fan­gen wis­sen.

Corona und Existenzängste

Das wohl psy­cho­lo­gisch ver­hee­rends­te an der Coro­na­kri­se sind die mit ihr ver­bun­de­nen Exis­tenz­ängs­te und Unsi­cher­hei­ten. Men­schen sind prin­zi­pi­ell nicht gut dar­in, Unsi­cher­hei­ten aus­zu­hal­ten. Wir haben im Gegen­teil ein grund­le­gen­des Bedürf­nis nach Kon­sis­tenz, und das Erle­ben von Kohä­renz in unse­rer Lebens­füh­rung hängt nach­weis­lich mit Lebens­zu­frie­den­heit zusam­men (Gre­ven­stein et. al., 2018). Die­ses kann auf­grund der mul­ti­plen Unsi­cher­hei­ten, die durch die Coro­na­kri­se ent­ste­hen, gera­de nicht gewähr­leis­tet wer­den, was zur indi­vi­du­el­len und kol­lek­ti­ven Reduk­ti­on des psy­chi­schen Wohl­be­fin­dens bei­trägt.

In der jet­zi­gen Kri­se wer­den Men­schen ihren Arbeits­platz ver­lie­ren. Selb­stän­di­ge und zum Bei­spiel Beschäf­tig­te im Hotel- und Gast­stät­ten­be­reich sind beson­ders gefähr­det. Die­se Arbeits­platz­un­si­cher­heit ist aber ein stark hin­der­li­cher Stres­sor (Tur­gut et. al., 2017), und gene­rell steigt jetzt für vie­le Men­schen die öko­no­mi­sche Pre­ka­ri­tät, was das Stres­ser­le­ben enorm stei­gert (All­men­din­ger et. al., 2018). Die­ses Gefühl, nicht zu wis­sen, ob am Monats­en­de genü­gend Geld auf dem Kon­to ist, wird eine enor­me Belas­tung sein. Ins­be­son­de­re die­je­ni­gen, die Schul­den und Kre­di­te haben, wer­den jetzt beson­ders lei­den. Und gera­de in Deutsch­land gibt es ja nach wie vor auch gedank­lich stark die­se Ver­knüp­fung von Schuld und Schul­den.

Gera­de die Exis­tenz­ängs­te sind die weit­rei­chends­te psy­chi­sche Belas­tung. Umso wich­ti­ger ist es, dass bereits letz­te Woche schnel­le und umfas­sen­de Ent­schei­dun­gen getrof­fen wur­den. Die psy­cho­lo­gi­sche Wir­kung des­sen dürf­te ver­gleich­bar sein mit dem Bild, als Mer­kel und Stein­brück mit erns­ter Mie­ne 2008 dastan­den und die Sicher­heit der Ban­ken­ein­la­gen garan­tier­ten. Das Pro­blem jetzt ist jedoch auch, dass durch Hams­ter­käu­fe der Ein­druck ent­steht, dass die Exis­tenz auf ele­men­ta­re Art und Wei­se gefähr­det ist, und die­ses indi­vi­du­ell ratio­na­le, aber kol­lek­tiv irra­tio­na­le Ver­hal­ten sich bei erwart­bar stei­gen­den Fall­zah­len nur noch deut­lich wei­ter stei­gern wird. Dies aber befeu­ert die Exis­tenz­ängs­te zusätz­lich.

Corona und Selbstreflexion

Es gibt also sehr wenig psy­cho­lo­gisch Posi­ti­ves, was aus der Coro­na­kri­se resul­tiert. Jedoch geht damit die durch­aus berech­tig­te Hoff­nung und Erwar­tung ein­her, dass Coro­na zur drin­gend benö­tig­ten Ent­schleu­ni­gung bei­tra­gen kann (vgl. Rosa, 2005), zu Muße und Ent­span­nung in einer zuneh­mend erschöpf­ten Gesell­schaft (Grae­fe, 2019). Für die­je­ni­gen, die kei­ne Vor­er­kran­kun­gen, exis­ten­zi­el­le Ängs­te oder zu betreu­en­de Kin­der haben, mag dies durch­aus mög­lich sein.

Das Pro­blem ist jedoch, dass vie­le Men­schen ja gera­de die Selbst­re­fle­xi­on scheu­en. Teils aus Ängs­ten vor den gene­rier­ten Erkennt­nis­sen, teils aus Unsi­cher­heit, teils weil sie sich ein­fach auch selbst nicht gut ken­nen oder ken­nen wol­len. Häu­fig wur­de der Tag ja gera­de voll­ge­packt, um Selbst­re­fle­xi­on zu ver­mei­den. Dies geht für vie­le Men­schen jetzt nicht mehr, und das kann dann auch mit schmerz­haf­ten Erkennt­nis­sen ein­her­ge­hen. Denn für gewöhn­lich ist Selbst­re­fle­xi­on ein Ist-Soll-Ver­gleich, ein Abgleich zwi­schen dem rea­len Selbst und dem idea­len Selbst. Wenn die­ser Ver­gleich all­zu nega­tiv aus­fällt, ist dies psy­chisch und affek­tiv sehr unan­ge­nehm (Reck­witz, 2018). Anders for­mu­liert: Bei eini­gen Men­schen war es durch­aus eine Schutz­funk­ti­on, dass sie kei­ne Zeit hat­ten, über sich selbst nach­zu­den­ken. Hin­ge­gen wird es aber durch­aus auch Men­schen geben, die jetzt Zeit für Selbst­re­fle­xi­on haben und aktiv dadurch ihre Per­sön­lich­keit ent­wi­ckeln kön­nen (Roth, 2015).

Gibt es auch etwas psychologisch Positives?

Ja. Wir wer­den nach der Kri­se Din­ge, die wir bis­her für selbst­ver­ständ­lich hiel­ten, zumin­dest eine gewis­se Zeit wie­der schät­zen. Im opti­ma­len Fal­le wer­den wir deut­lich mehr Dank­bar­keit für ver­schie­de­ne Din­ge und Men­schen haben, da wir die Erfah­rung ihrer Nicht­selbst­ver­ständ­lich­keit als gesam­te Gesell­schaft gemacht haben wer­den. Die kol­lek­ti­ve Hygie­ne wird sich deut­lich ver­bes­sert haben. Wir wer­den viel stär­ker ein Bewusst­sein für die grund­le­gen­de Ver­letz­lich­keit der schwä­che­ren Mit­glie­der in unse­rer Gesell­schaft haben. . Eben­so wird das erfolg­rei­che Über­ste­hen einer Kri­se sowohl die indi­vi­du­el­le Selbst­wirk­sam­keit (vgl. Mol­ter et. al., 2013) als auch die Resi­li­enz (Berndt, 2013) stär­ken, was uns lang­fris­tig durch­aus zufrie­de­ner machen kann (Schlett et. al. 2018). Wir kön­nen auch als Gesell­schaft an einer solch exis­ten­zi­el­len Kri­se wach­sen.

Den­noch bleibt ganz klar fest­zu­hal­ten: Für das psy­chi­sche Wohl­be­fin­den, die Affekt­bi­lanz, den Selbst­wert und die psy­chi­sche Gesund­heit über­wie­gen die nega­ti­ven Fol­gen der Coro­na­kri­se deut­lich

Abgeleitete Maßnahmen aus den psychologischen Folgen der Coronakrise

  1. Es soll­te ein Ein­sam­keits­mo­ni­to­ring geben, bei dem ins­be­son­de­re Wit­wen und Wit­wer sowie alle, die das möch­ten, aktiv ein­ge­bun­den und regel­mä­ßig ange­ru­fen wer­den.
  2. Es soll­te Auf­ga­ben zur kogni­ti­ven Sti­mu­la­ti­on geben für alle, die jetzt zu Hau­se sind und sich nicht zu beschäf­ti­gen wis­sen, ana­log zum jetzt gestar­te­ten Bil­dungs­pro­gramm für Kin­der in der ARD.
  3. Die Sui­zid­prä­ven­ti­on soll­te mas­siv gestärkt wer­den.
  4. Die Sor­gen­te­le­fo­ne und Bera­tungs­an­ge­bo­te (ins­be­son­de­re auch Erzie­hungs­be­ra­tung) soll­ten mas­siv auf­ge­stockt wer­den.
  5. Es soll­ten tech­nisch nied­rig­schwel­li­ge Webi­na­re ange­bo­ten wer­den, wel­che ein gewis­ses Maß an Sozia­li­tät und Anre­gung geben.
  6. Es soll­te neben Kurz­ar­beit auch einen direk­ten Schutz­schirm für Beschäf­tig­te ins­be­son­de­re in den beson­ders betrof­fe­nen Bran­chen geben, um die öko­no­mi­schen Exis­tenz­ängs­te zu redu­zie­ren.
  7. Resi­li­en­z­trai­nings soll­ten nied­rig­schwel­lig ver­schie­de­nen Men­schen ver­füg­bar gemacht wer­den.
  8. Gera­de für den länd­li­chen Raum soll­ten fah­ren­de Diens­te wie Super­märk­te und Apo­the­ken ange­bo­ten wer­den, die nicht nur die Ver­sor­gung sicher­stel­len, son­dern auch ein Mini­mal­maß an Sozia­li­tät.
  9. Nicht nur die Kran­ken­häu­ser, auch die Psych­ia­tri­en, Tages­kli­ni­ken und wei­te­ren Ange­bo­te zur Stär­kung bzw. Wie­der­her­stel­lung der psy­chi­schen Gesund­heit soll­ten gestärkt und finan­zi­ell geför­dert wer­den sowie kurz­fris­tig mehr Per­so­nal bekom­men, z.B. durch Psy­cho­lo­gie­stu­die­ren­de mit Schwer­punkt Kli­ni­scher Psy­cho­lo­gie.
  10. Wir soll­ten auch in Deutsch­land über die Eta­blie­rung eines Ein­sam­keits­mi­nis­te­ri­ums nach­den­ken.

Literatur

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